Wahrnehmungsfilter

Für ein erfolgreiches Coaching ist es wichtig, den Coachee in seiner Wirklichkeit abzuholen. Aber …

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Jeder von uns lebt in seiner eigenen Realität, die mehr oder weniger mit der tatsächlichen Realität zu tun hat. Wir konstruieren uns also letztlich unsere eigene Welt, unsere eigene Wirklichkeit. Immanuel Kant (deutscher Philosoph des 18. Jahrhunderts) war der geistige Vater des Konstruktivismus. Vor Kant bestand das Ziel der Philosophie darin, die Welt so zu sehen und so zu beschreiben, wie sie wirklich ist. Kant war der erste, der das geändert hat. Er verlagerte den Fokus von der äußeren auf die innere Welt.

Nach Kant: „Wahrheit, sagt man, besteht in der Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstande. Dieser bloßen Worterklärung zufolge soll also meine Erkenntnis, um als wahr zu gelten, mit dem Object übereinstimmen. Nun kann ich aber das Object nur mit meiner Erkenntnis vergleichen, dadurch, daß ich es erkenne. Meine Erkenntnis soll sich also selbst bestätigen, welches aber zur Wahrheit noch lange nicht hinreichend ist. Denn da das Object außer mir und die Erkenntnis in mir ist, so kann ich immer doch nur beurteilen: ob meine Erkenntnis vom Object mit meiner Erkenntnis vom Object übereinstimme.“

Was Kant ausdrückt ist: Wir sehen in der Welt nur das, was wir sehen können, was wir glauben können und womit wir umgehen können. Wir erschaffen die Welt, in der wir leben, in unseren Köpfen. Jeder Mensch hat seine ganz persönliche Welt, lebt letztlich in seiner eigenen Realität.

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Kennen Sie folgende Situation: Sie fragen sich, ob Sie im gleichen Meeting waren worüber der Kollege gerade spricht. Ihre Rückmeldung zum Meeting würde ganz anders ausfallen. Und dabei gilt: Wir mögen subjektiv ehrlich sein, aber andere mögen dieselbe Sache ganz anders beschreiben. Das hat etwas mit unserer Wahrnehmung zu tun, denn jeder sieht die Welt durch eine andere Brille. Wir nehmen es als selbstverständlich hin, dass wir eine Brille tragen. Und oft vergessen wir, dass wir diese Brille tragen und sind ganz überrascht, dass andere Menschen die Dinge ganz anders sehen. Diesen Unterschied zwischen “Wahrnehmung” und der tatsächlichen Realität können wir mit Wahrnehmungsfilter und persönlichen Filter beschreiben. Der Wahrnehmungsfilter basiert auf der begrenzten Fähigkeit unseres Gehirns, Informationen zu verarbeiten: Wir können nicht alle Informationen verarbeiten, die wir erhalten. Unser Gehirn filtert also einen Teil dieser Fülle von Informationen. Persönliche Filter beruhen auf unseren Erfahrungen, aktuellen Bedürfnissen und Überzeugungen. Und dann gibt es noch den Sprachfilter: Sobald wir unsere eigene gefilterte Wahrnehmung der Realität haben, fangen wir an, sie mit anderen zu diskutieren. Wenn ich mein Bild jemand anderem beschreiben, verschwimmen dabei die Aspekte Wahrnehmung und tatsächliche Realität. Unterbewusst über die Sprache – über den Sprachfilter – hebt man sein beschriebenes Bild wieder in Richtung Realität.

Der neurologische Filter als Wahrnehmungsfilter

Unser Gehirn verarbeitet nie alle Eindrücke, die durch unsere fünf Sinneskanäle (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) wandern. Das wäre auch fatal! Wie wichtig ist beispielsweise beim Radfahren die Straße zu riechen? Unser Gehirn ist gar nicht in der Lage, alle auf uns einströmenden Informationen zu verarbeiten. Jeder Mensch nimmt circa 10.000 Sinneswahrnehmungen pro Sekunde auf. Bei 86.400 Sekunden pro Tag kommt da einiges zusammen! Unser Gehirn filtert also die Eindrücke heraus, die aktuell von Bedeutung sind. Damit ordnen wir für uns die relevanten Informationen.

Die persönlichen Filter als Wahrnehmungsfilter

Wir sehen und verstehen die Welt durch unseren persönlichen (individuellen) Filter. Individuelle Filter beeinflussen maßgeblich, was wir überhaupt wahrnehmen und wie wir das Wahrgenommene bewerten. Beides zusammen macht dann aus, was für uns die Wirklichkeit ist. Sehen Sie sich folgendes Bild eines Jugendzimmers an. Was nehmen Sie auf? Was registrieren Sie?

Wer Sport treibt, hat vielleicht als Erstes den Pokal oder die Medaille wahrgenommen. Wer Haustiere hat gegebenenfalls als Erstes den Vogel.

Was wir wahrnehmen hängt nicht nur von der Verarbeitungskapazität unseres Gehirns ab, sondern eben auch von unseren individuellen Filtern. Das sind z.B. unsere Interessen, Überzeugungen, Vorurteile, Erwartungen, Werte und persönliche Bedürfnisse. All diese Aspekte sorgen dafür dass wir unsere Wirklichkeit so sehen, wie wir sie sehen (möchten). Wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, glauben wir leicht, die Welt sei so, wie wir sie sehen. Das lässt dann wenig Spielraum für andere Sichtweisen, für andere Wirklichkeiten. Aber die Wahrscheinlichkeit dass ein anderer exakt die gleichen Wahrnehmungsfilter hat wie man selbst, geht gegen Null.

Unsere individuellen Filter – ein paar Beispiele:

Wenn Sie als Interesse / Hobby Segeln haben, sehen Sie in Buchhandlungen sicherlich bald und nahezu immer Bücher zu Ihrem Thema. Wenn in Ihrem Denkmuster hinterlegt ist, dass der Kollege immer effizienter arbeitet als Sie, dann finden Sie sicherlich auch kontinuierlich adäquate Belege um dieses stets zu belegen. Und wenn Sie in der Stadt unterwegs sind und starken Hunger haben, könnte es sein, dass Sie mehr FastFood-Angebote und Bäckereien wahrnehmen als üblich. Letztlich wollen Sie Ihrem Bedürfnis den Hunger zu stillen nachkommen.

Wir neigen dazu, nicht offen zu sein für Informationen, die nicht zu dem passen, was wir bereits glauben.

Bewertung

Jeder Mensch bewertet gleiche Situationen anders. Und das hat wiederum Einfluss darauf was er wahrnimmt. Es handelt sich also hierbei um einen Kreislauf:

Ein Kreislauf

  1. Wir beobachten Situationen: Wahrnehmung
  2. Wir bewerten Situationen: Bewertung / Interpretation
  3. Wir schlussfolgern daraus und sind überzeugt von dem was wir wahrnehmen: Schlussfolgerung / Überzeugung

Ab sofort werden Sie mit höherer Wahrscheinlichkeit wieder Dinge wahrnehmen, die zu unserer Überzeugung passen.

Ein Versuch

Robert Rosenthal, Psychologe hat hierzu einmal ein interessantes Experiment durchgeführt:

Er hat Lehrkräften zwei Klassen vorgestellt: In einer Klasse seien die intelligenten und leistungsstarken Schüler und in der anderen Klasse die weniger intelligenten Schüler. Dabei waren die Schüler den beiden Klassen rein zufällig zugeordnet. Ein Jahr später hat man die Leistungen der Schüler der beiden Klassen ausgewertet. Und tatsächlich waren die Noten der Schüler der ersten Klasse deutlich besser.

Hier hat die Überzeugung der Lehrkräfte zu einem bestimmten Verhalten und Bewertung gegenüber den Schülern bewegt, das letztlich zu einem tatsächlichen Leistungszuwachs bzw. -abfall geführt hat.

Unsere Wahrnehmung hat also mit Objektivität eventuell wenig zu tun. An einfachen Beispielen lässt sich unsere Wahrnehmung versus Realität demonstrieren:

Wahrnehmung nur Ausschnitt der tatsächlichen Realität

Wir nehmen nur Ausschnitte der tatsächlichen Realität wahr.

Den klaren Sternenhimmel den wir Menschen sehen können unterscheidet sich fundamental von dem Sternenhimmel den Katzen oder Eulen wahrnehmen können. Katzen und Eulen können wesentlich mehr Sterne am Nachthimmel wahrnehmen!

Fokus

Wir legen einen starken Fokus auf bestimmte Elemente der Wirklichkeit; blenden dabei andere Aspekte außerhalb des Fokus aus.

Wahrnehmung erst ab bestimmten Stärkegrad

Wir nehmen Realitäten erst ab einem bestimmten Stärkegrad wahr.

Das erklärt zum Beispiel auch die unterschiedliche Schmerzwahrnehmung.

Die Sprachfilter als Wahrnehmungsfilter

Es gibt drei sprachliche Filter:

Tilgung: Tilgungen sind Informationen oder Teilaspekte die in einer Aussage fehlen.

Generalisierung: Bei Generalisierungen oder Verallgemeinerungen werden einzelne Informationen oder Situationen als Regelfall dargestellt. Oft werden in den entsprechenden Aussagen Schlüsselwörter wie „immer“, „nie“, … verwendet.

Verzerrung: Hier werden z.B. Vorannahmen getroffen, Ursache-Wirkungs-Beziehungen aufgestellt oder einfach Gedanken anderer gelesen. Was schwingt für Sie in der folgenden Aussage unterschwellig mit: „Endlich machen wir Fortschritte im Projekt.“ Mmh … gab es vorher keine Fortschritte im Projekt? Ist das wirklich so?

Fazit

Jeder schaut durch seine Brille auf die Realität und konstruiert sich sein ganz individuelles Bild von der Wirklichkeit.

Wenn zwei Gesprächspartner ihre individuelle Wirklichkeitskonstruktion mit der Realität verwechseln, haben Sie möglicherweise wenig Verständnis für die Art und Weise, wie der Andere die Wirklichkeit versteht. Und wer hat dann recht?

Es gilt:

  • Offen sein für die Sichtweise des Gesprächspartners.
  • Fragen stellen um die Landkarte des Gesprächspartners zu erkunden.

Überlassen Sie Ihrem Gesprächspartner nicht, ihre Aussagen zu vervollständigen (tun Sie das selbst).

Erfolgreiche Kommunikation, LinkedIn, Regina Remy
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