Was ist systemisch?

Was ist systemisch?

Was ist systemisch?

Sie arbeiten als systemischer Coach?

Ja!

Wenn ich diese Frage gestellt bekomme und zunächst knapp antworte, merke ich, dass da natürlich noch weitere Fragen mitschwingen. Im Gespräch finde ich heraus, dass unter anderem noch folgendes interessiert:

  • Was macht ein systemischer Coach anders als andere Coaches?
  • Und wieso „systemisch“? Was heißt das überhaupt?
  • Sind das jetzt besondere Tools, die ein systemischer Coach anwendet oder geht es um eine besondere Haltung?

Ich habe diesen Blogbeitrag nun mit der Frage „Was ist systemisch?“ betitelt und versuche obige Fragen zu beantworten, indem ich auf folgende Themen eingehe:

  1. Das komplexe System und der systemische Ansatz sowie
  2. die Geschichte der Systemtheorie

Ein paar systemische Grundhaltungen erwähne ich außerdem, gehe aber in einem weiteren Blogbeitrag hierzu noch tiefer ein.

Das komplexe System und der systemische Ansatz

Als Systemische Coaches gehen wir davon aus, dass Systeme komplex sind und daher zum Finden von Lösungen und Entscheidungen ein systemischer Ansatz notwendig wird.

Aber erstmal langsam!

Was bedeutet „Komplexität“? Und was ist der Unterschied zur „Kompliziertheit“?
Was verstehen wir unter dem „System“?
Und was bedeutet dann der „systemische Ansatz“?

Begriffsdefinition Komplexität

Mir ist aufgefallen, dass das Wort „komplex“ derzeit recht inflationär verwendet wird. Und sehr oft ist eigentlich „kompliziert“ gemeint.

Was ist nun aber der Unterschied zwischen „komplex“ und „kompliziert“?

Kompliziertheit

Kompliziertheit

Kompliziertheit versteht sich als Maß an Unwissenheit und Nichtverstehen, welches allerdings erlernt werden kann. Das heißt, durch Erwerb von Wissen und Üben lassen sich komplizierte Sachverhalte und Situation letztlich auch beherrschen.

Ursache und Wirkung sind vorhanden (auch wenn das anfangs – weil eben „kompliziert“ – noch nicht so einfach zu erkennen ist).

Es gibt eine oder mehrere richtige Antworten.

Da das System vorhersehbar ist, können Vorgehensweisen geplant werden.

Als Metapher könnte ein Getriebe herangezogen werden. Das erste Zahnrad wird gedreht und bewegt, ggf. über eine mehrstufige, komplizierte Übersetzung ein anderes Zahnrad. Das heißt, die Bewegungen der Zahnräder sind genau vorhersehbar.

Komplexität

Komplexität

Komplexität beschreibt ein System mit etlichen unbekannten Parametern. Alles hängt irgendwie und vermutlich miteinander zusammen; alles ist im Fluss und wenig vorhersehbar.

Es gibt viele konkurrierende Ideen und Zugkräfte, aber keine richtigen Antworten, vielmehr Orientierungsmuster, die man erkennen könnte.

Da das System wenig vorhersehbar ist, ist eine iterative (testende) Vorgehensweise sinnvoll.

Als Metapher könnte man sich ein Mobile vorstellen. Die exakten Bewegungen der einzelnen Elemente durch Anstupsen eines Elementes ist nur wenig vorhersehbar. Und wenn dann noch ein weiterer Parameter – z.B. der Wind – hinzukommt, wird die genaue Vorhersage noch schwieriger bis unmöglich. Außerdem hat der Stupser auf ein Element auch gleich Auswirkung auf viele weitere Elemente bzw. auf das ganze System.

Begriffsdefinition System

Laut dem Duden gilt: Ein System ist ein aus mehreren Teilen zusammengesetztes und gegliedertes Ganzes.

Des Weiteren werden Systeme üblicherweise wie folgt beschrieben:

  • Aus einzelnen Teilen bestehend,
  • die zueinander in Beziehung/Interaktion stehen,
  • als Ganzes in einer gewissen Struktur (mit Grenzen) organisiert,
  • meist ein Ziel und Zweck haben und
  • einer kontinuierlichen Dynamik und Veränderung unterliegen.

Und ja, wir nehmen Systeme, wie z.B. Teams oder Organisationen, als zunehmend komplex war.

Begriffsdefinition Systemischer Ansatz

Um den systemischen Ansatz gut zu beschreiben, nutze ich den Vergleich mit einem alternativen Ansatz. In diesem Kapitel gehe ich daher zunächst auf

  • den mechanistischen Ansatz und dann auf
  • den systemischen Ansatz

ein.

Der mechanistische Ansatz bei einer linearen Kausalität von Ursache und Wirkung

Seit Jahrhunderten hat der mechanistische Ansatz unser Denken geprägt: Analytisches Denken, Beobachtung der Natur und die Erfassung der Welt in Zahlen und Formeln. Kurzum: Die Analyse, Messbarkeit, Quantifizierung und letztlich die Zerlegung von Zusammenhängen.

Dahinter steckt die Idee der direkten Steuerbarkeit bzw. der Idee einer linearen Kausalität von Ursache und Wirkung.

Nach der mechanistischen Denkweise sind Probleme objektiv beschreibbar und jedes Problem hat eine klar identifizierbare Ursache. Ziele sind widerspruchsfrei, d.h. klar definiert und in sich konsistent. Um eine Situation zu verstehen, genügt dann auch eine Momentaufnahme.

Der systemische Ansatz bei lebenden Systemen und entsprechenden Wechselwirkungen

Beim systemischen Ansatz geht es um einen Paradigmenwechsel hin zum Denken in Wechselwirkungen! Das systemische Paradigma ist das Prinzip lebender Systeme. Systeme organisieren sich selbst unberechenbar und von außen nicht steuerbar.

Nach der systemischen Denkweise sind Probleme immer subjektiv: Jede Person im System hat seine eigene Sichtweise darauf. Alle Akteure der Problemsituation stehen in Wechselbeziehung. Da jeder Akteur seine eigenen Ziele verfolgt, gilt es Widersprüche auszubalancieren. Und um eine Situation zu verstehen, muss man die zeitliche Dynamik der Beziehungen erfassen.

Die Geschichte der Systemtheorie

„Systemisch“ meint also die Wechselwirkungen, Dynamik und Widersprüche in einem lebenden (komplexen) System bei Handlungen und Entscheidungen zu berücksichtigen.

Die dazugehörige Theorie ist die Systemtheorie.

Manche erhoffen sich von der Systemtheorie die große, interdisziplinäre Erklärung aller Phänomene: Von der Zelle bis hin zu ganzen Gesellschaften. Andere sehen eher ein Ende der großen Theorie-Entwürfe.

Aber eines ist klar: Ohne Systemtheorie wären systemische Metamodelle wie z.B. Aufstellungen kaum denkbar.

Nachfolgend skizziere ich den Ursprung sowie Weiterentwicklungen der Systemtheorie. Dabei beeinflussten sich die verschiedenen Ansätze und Disziplinen wechselseitig.

Der Ursprung

Den Ursprung der Systemtheorie kann man in der

  • Biologie (nach Bertalanffy),
  • in der Physiologie (nach Cannon) sowie
  • in der Kybernetik (Forschungsteam in Palo Alto, Kalifornien)

zum Ende des zweiten Weltkriegs finden.

Ludwig von Bertalanffy (1901-1972) und die Biologie: Bertalanffy war ein österreichisch-kanadischer Biologe und einer der Wegbereiter der Systemtheorie.

Im Jahr 1956 veröffentlichte Bertalanffy sein Buch „General System Theory: Foundations, Development, Applications“ (Allgemeine Systemtheorie: Grundlagen, Entwicklung, Anwendungen), das als Meilenstein in der Entwicklung der Systemtheorie gilt.

Bertalanffy argumentierte, dass viele Phänomene in der Biologie nicht allein durch die Reduktion auf ihre einzelnen Bestandteile erklärt werden können, sondern dass es notwendig ist, sie als integrierte Systeme zu betrachten.

Walter B. Cannon (1871-1945) und die Physiologie: Cannon war ein amerikanischer Physiologe, der für seine Arbeit im Bereich der Homöostase und der Regulation des inneren Milieus des Körpers bekannt ist.

Cannon prägte den Begriff „Homöostase“, um die Fähigkeit des Körpers zu beschreiben, sein inneres Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, indem es auf Veränderungen in der Umgebung reagiert.

Seine Arbeit betonte die Bedeutung von Regelkreisen und Feedback-Mechanismen in biologischen Systemen, die später in die Entwicklung der Systemtheorie einflossen.

Die Kybernetik: Die Kybernetik ist ein multidisziplinäres Forschungsfeld, das sich mit der Steuerung, Regelung und Kommunikation in Systemen beschäftigt. Sie betont die Bedeutung von Feedback-Schleifen, Selbstregulierung und Kommunikation in Systemen, unabhängig von ihrer spezifischen Disziplin und wurde während und nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt.

Das Forschungsteam in Palo Alto, Kalifornien, spielte bei der Entwicklung der Kybernetik und ihrer Verbindung zur Systemtheorie eine bedeutende Rolle. Zu den prominenten Mitgliedern dieses Teams gehörten u.a. Gregory Bateson, Norbert Wiener und John von Neumann.

Systemtheorie Version 1: Kybernetik der 1. Ordnung

Bei der Kybernetik der 1. Ordnung gilt noch die feste Überzeugung: Ein System lässt sich regeln!

Ein System ist also regel-/steuerbar, es gibt einen gewünschten (guten) Soll-Zustand sowie einen Gleichgewichtszustand, auf den auch ein Berater zusteuern kann.

Ein Systemmodell hilft die Komplexität realistisch abzubilden.

Aufkommende Fragen und Zweifel an die Kybernetik der 1. Ordnung

Die Fragen und Zweifel mit Blick auf die Systemheorie Version 1 könnte man wie folgt beschreiben:

  • Gibt es denn wirklich einen „richtigen“ Soll-Zustand eines Systems? Und wer legt diesen fest?
  • Lassen ich komplexe Systeme steuern bzw. zielgerichtet planen?
  • Gibt es einen Gleichgewichtszustand? Ist ein System nicht ständig in Veränderung? Und sollte man daher vielmehr die Veränderung in den Blick nehmen?

Systemtheorie Version 2: Kybernetik der 2. Ordnung

Das Systemverständnis der Kybernetik der 2. Ordnung war prägend seit den 80er Jahren und hat noch heute Relevanz!

Charakteristisch für diese Systemtheorie ist:

  • Das System lässt sich nicht regeln. Einzelne Veränderungen sind nicht genau planbar.
  • Ein System kann sich auch von einem scheinbar stabilen Zustand in einen neuen Zustand (der auch überraschen kann) wandeln. Dieser sogenannte Phasenübergang kann nicht direktiv gestaltet werden.
  • Lebende Systeme folgen einer eigenen inneren Logik der Selbstorganisation, die einigermaßen abgeschlossen zur Außenwelt funktioniert, aber eben nur begrenzt von außen beeinflussbar ist.

Die Auswahl weiterer Systemtheorien

Darüber hinaus gibt es viele weitere Systemtheorien mit unterschiedlichem Fokus und unterschiedlicher Anwendung.

Familientherapie

Im Kontext der Familientherapie haben sich v.a. Gregory Bateson und Virginia Satir sowie die Mailänder Schule einen Namen gemacht. Sie nutzten die ganzheitliche Betrachtungsweise von Systemen im Rahmen ihrer systemischen Familientherapie: Veränderungen bei einem Familienmitglied hat Auswirkungen auf das gesamte System Familie.

Organisationsentwicklung

Kurt Lewin gilt als Vater der Organisationsentwicklung. Besonders bei Veränderungsprozessen in Organisationen sind seine Überlegungen sehr wertvoll. Hier ist z.B. das Drei-Phasen-Modell des Wandels (Unfreeze-Change-Refreeze) zu nennen. In seiner Feldtheorie sagt er, dass das gesamte Feld (das gesamte System) betrachtet werden muss, um nachhaltige Veränderungen umzusetzen.

Jacob L. Moreno ist bekannt für seine Arbeit in der Gruppendynamik sowie die Entwicklung von Psychodrama (ein Rollenspiel in dem Menschen ihre Probleme darstellen und bearbeiten). Moreno postulierte, dass das Verstehen der Gruppendynamik hilft, Probleme zu lösen und die Gruppenleistung zu verbessern.

Soziologische Systemtheorie

Ein bekannter Systemtheoretiker ist auch Niklas Luhmann. Seine soziologische Systemtheorie ist auf soziale Systeme ausgerichtet. Außerdem sieht er die Kommunikation als wesentliches Bindemittel zwischen den Elementen des Systems. Kommunikation ist seiner Theorie folgend nicht nur Mittel der Informationsübertragung, sondern ein Mittel, das soziale Systeme erst hervorbringt und aufrechterhält.

Zusammenfassung

Im systemischen Denken gehen wir von einem Mobile als Metapher aus. Eine Änderung an der einen Stelle bewirkt immer Änderungen, an allen anderen Stellen.

Möchte man eine Änderung bewirken nutzt man Interventionen. Intervenieren ist der Versuch, ein Lebenssystem zur Bewegung in die gewünschte Richtung zu verführen.

Das systemische Führen denkt in Wechselwirkung, bezieht Fremdperspektiven per se mit ein und versucht, die Anzahl an Handlungsoptionen zu erhöhen. Systemisches Führen bedeutet, sich so zu verhalten, dass sie die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ihre Mitarbeiter das tun, was sie von ihnen erwarten.

Die Funktion eines systemischen Beraters:

Hier ist also nun Bescheidenheit und Demut angesagt.

Ein systemischer Berater kann „nur“ das System anstoßen, anregen, in Schwingung bringen oder (mit paradoxen Interventionen) verstören. Es ist nicht das Ziel ein „fotografisch-korrektes“ Bild des Systems zu liefern, um dann mit den „richtigen“ Interventionen zu agieren.

Abschluss mit Video